Immendorff in Wonderland

artnet Magazin/20. Oktober 2005 

Male Lago, male Rot! Die Neue Nationalgalerie – Staatliche Museen zu Berlin widmet dem Maler und Bildhauer Jörg Immendorff anlässlich seines 60. Geburtstages eine große, umfassende Werkschau und wirbt mit einem Plakatmotiv, das für eine Ausstellung von Gemälden, Collagen und Plastiken eher unüblich ist. Meint man von weitem noch die medizinische Grafik eines sezierten Herzens zu erkennen, so entschlüsselt sich das rot auf schwarz gedruckte Gebilde beim genaueren Hinsehen als architektonischer Grundriss. Es ist der Übersichtsplan eines Ausstellungsdesigns, das schon von draußen durch die Glasscheiben des Mies-van- der-Rohe-Baus alle Blicke auf sich zieht und neugierig macht. Kein anderer als Immendorff selbst hat diese opulente Inszenierung entworfen, die seinen Arbeiten einen höchst dramatischen Auftritt gibt. Sein Studium an der Staatlichen Kunstakademie Düsseldorf hatte er als Bühnenbildstudent von Teo Otto begonnen, bevor er 1964 in die Klasse von Joseph Beuys wechselte. Und auch später, als zweimaliger documenta-Teilnehmer und international anerkannter Künstler, suchte er immer wieder die Herausforderung, sich als Bühnenbildner künstlerisch auseinander zu setzen, zuletzt 2002 an der Staatsoper unter den Linden. Da lag es nahe, dass er – mit Hilfe des Bühnenbildkollegen Bert Neumann – das Raumkonzept für die Präsentation seiner Arbeiten in der Neuen Nationalgalerie entwarf und sich damit ebenso als Ausstellungsdesigner der Kritik stellt.

Die 25.000 Quadratmeter große Empfangshalle der Neuen Nationalgalerie hat sich immer wieder als schwieriger Ausstellungsraum für Malerei erwiesen. Um die ausgewogenen Proportionen der Halle nicht zu zerstören und den grandiosen Blick auf das nahe gelegene Kulturforum nicht zu blockieren, möchte man dem Raum Plastiken nur sparsam platziert anvertrauen oder Menschengruppen als Bilder arrangiert, wie es unlängst Vanessa Beecroft so effektvoll demonstrierte. Immendorff stellt nun der Weite und Transparenz des Raumes Kleinteiligkeit und Geschlossenheit gegenüber und antwortet der schlichten Eleganz und modernen Sachlichkeit des Bauwerkes mit vermufftem Plüsch und naiver Theatralik. Er verteilt neun rechtwinklige Baukörper mit unterschiedlichen Volumina im Raum, wie die beeindruckend große, freistehende Wand und die sechs Kuben, die als klassische Kunstkabinette genutzt werden. Zwei weitere kaschieren geschickt und für die meisten Besucherinnen und Besucher sicherlich unbemerkt die Dachträgerkonstruktion des Gebäudes und können, über Treppen erreichbar, als Aussichtsplattformen benutzt werden. Die Kuben, auch als Häuser bzw. Pavillons angekündigt, sind durch sich schlängelnde Wege aus Auslegware miteinander verbunden, so dass man meinen könnte, sie seien dem nicht zu bändigenden Gestaltungseifer eines Floristen entsprungen, der sich für die nächste Bundesgartenschau bewerben möchte.

Immendorff bezieht sich in seiner Ausstellungsarchitektur auf Ideen und Konzepte aus den späten 1960er und frühen 70er Jahren, wie auf das Happening Mietersolidarität von 1970, einer Stadt aus bewohnbaren Papphäusern auf dem Vorplatz des Schauspielhauses Düsseldorf, oder die unter seiner Wortschöpfung „LIDL“ zusammengefassten Aktionen. Ein Projekt, das in dieser Zeit oft mit Zeichnungen und Collagen visualisiert wurde und als „geistiger Widerstand gegen die geistlose und unschöpferische Politik Deutschlands“ verstanden wurde, war die fiktive „LIDL-Stadt“.
Den vorerst irritierenden Begriff „Lago“ im Titel der Ausstellung Male Lago – Unsichtbarer Beitrag entlieh Immendorff dem 1973 entstandenen Western High Plains Drifter, in dem ein einsamer Held, gespielt von Clint Eastwood, in der Stadt Lago aufkreuzt, um den Mord an seinem Bruder zu rächen. Im Lauf der Geschichte werden die zur Schuld verdammten Stadtbewohner gezwungen, ihre Häuser rot zu streichen, damit sie erkennen, dass es die Hölle ist, in der sie leben.

In diesem Sinne vermischt Immendorff plakative und in die Jahre gekommene Agitprop-Manier mit moralisierender Westernromantik und taucht sein gesamtes Ausstellungsdesign in ein intensives klassisches Rot. Das muss man erst einmal verkraften! Soviel Rot hat man schon lange nicht mehr an einem Ort gesehen. Dabei kann, so interpretiert es der Sprecher des Audio-Guide, die Farbe Rot auch politisch verstanden werden. Aha! Man fühlt sich nostalgisch berührt vom aufgeheizten Klima der 60er Jahre, von alten KSV-Zeiten, lässt vor seinen Augen Propagandabilder von SED-Parteitagen vorbeiziehen, von Fähnchen schwingenden Chinesen auf überdimensionalen Plätzen und hat letztlich doch nur das Gefühl, in dem schlecht gemachten Filmset einer sowjetischen Version von „Alice in Wonderland“ herum zu stehen. Denn es sind nicht nur die Kabinette, die von außen im kräftigen KP-Rot leuchten, auch die Wege sind rot. Und, als ob das nicht schon genug wäre, sind sie umsäumt von roten Fahnengalgen und roten Spruchbändern, die den Betrachter mit ironischen Parolen – meist Werktiteln entnommen – erheiternd provozieren wollen.

„Das Bild muss die Funktion der Kartoffel übernehmen“ ist mit weißer Farbe auf ein Transparent gemalt, ein anderes trägt den Schriftzug „Der Garten macht uns fertig“ oder „Wo stehst du mit der Kunst Kollege.“ Folgt man dem Banner mit der Aufschrift „Angstschweiß eines am Diesseits orientierten Bürgers“ stößt man gegen eine Wand, denn der Weg endet hier abrupt. Eine Parole lockt auf die Aussichtsplattform gleich neben der Kasse. Hier steht eine Fahne, gestützt von einem leeren Bücherregal, einer Farbpalette und einer improvisierten Rednerbühne. Sie wirkt wie abgestellt und aufgegeben. „Stop ALS - Kampf der Zeit“ kann man in den Stofffalten entziffern. Da verstummt der Betrachter, wie vor dem entblößten Stumpf eines Bettlers.

Von oben hat man eine gute Aufsicht auf die Aufteilung der Ausstellungsfläche und kann die Besucherinnen und Besucher beobachten, wie sie beflissen den schmalen Wegen folgen. Diese, Blutbahnen ähnlich, führen zu einem zentralen Ort, einem Platz, umbaut von Häuserfassaden mit großformatigen Arbeiten, die gegen das Rot der Wände ankämpfen müssen. Ein Adler-Denkmal behauptet sich auf einer Verkehrsinsel und projizierte Schablonen, Stempel, Silhouetten – Malvorlagen aus Immendorffs Archiv – umflattern hier wie kleine Halloween-Geister das unmittelbare Zentrum der Ausstellung. Es ist, man mag seinen Augen kaum trauen, ein Dorfbrunnen! Und es ist der Meister selbst, der unüberhörbar aus der Tiefe spricht. Und beugt man sich über den Brunnenrand, so, wie es einst die Goldmarie getan hat, kann man einem Video zuschauen, das Immendorff als Professor im Unterricht mit seinen Studenten zeigt. Hier wird die Lehre vermittelt, das Vermächtnis weitergegeben, vielleicht sogar der Schatz vom Silbersee gefunden, auf jeden Fall der Jackpot für ewige Schönheit geknackt; denn – so nennen ihn die Ausstellungsmacher – hier ist man am Jungbrunnen angekommen!

Wie konnte das passieren? Traut Immendorff der enormen Kraft seiner eigenen Bilder nicht mehr, dass er meint, sie mit Dekorationen aufwerten zu müssen? Oder ist er so vermessen zu glauben, dass sie immun sind gegen jegliche Dominanz von außen, auch eben jener Dominanz von „LIDL“? Gerade jetzt, wo mit der Leipziger Schule die figurative Malerei wieder aufgekeimt ist, hätte man den symbolträchtigen, mit kunsthistorischen Zitaten voll bespickten Breitwandcomics gern einen neuen, unverstellten Blick gegönnt; einen respektvollen Blick, auch einen mit Ehrfurcht. Doch als Ausstellungsdesigner degradiert der Künstler seine eigene Malerei zur Deko, so, dass selbst die amüsanten Affenfiguren aus der Malstamm-Serie, die uns so treffsicher den Spiegel vorhalten, zur skulpturalen Auflockerung mutieren. Oder – hat Immendorff am Ende alles nur deshalb mit abgegraster Ästhetik zugemüllt, um den Blick zu schärfen für „das Bild hinter den Bildern“, für den, wie er es nennt, Unsichtbaren Beitrag?

Ric Schachtebeck

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