Katharine Sehnert
Zierliche Erscheinung, feines Gesicht – und ein ganz eigener Kopf, der sich von Mary Wigman hat inspirieren lassen. Bis heute gibt die Künstlerin weiter, was sie gelernt, erlebt und erfahren hat.

tanz-Magazin/Januar 2019

Die Energie der Tänzerin Katharine Sehnert verblüfft. Wir sitzen in ihrer Kölner Wohnung, umgeben von Aktenordnern mit Zeitungsartikeln, Kritiken, Programmheften und Fotos. Vergangenes wird wieder lebendig. Es wird viel gelacht. Ab und zu springt Sehnert von ihrem Stuhl auf, zeigt eine Schrittkombination, demonstriert eine typische Wigman-Geste und macht Differenzen deutlich. Die Küche wird zum Ballettsaal. Seit die 1937 in Erfurt Geborene bei Mary Wigman zu tanzen anfing, hat sie den respektvollen Blick auf das Werk und die Methode der großen Wegbereiterin des modernen Tanzes nicht aus den Augen verloren. Sehnert gilt als Expertin. Als 2013 die Theater Osnabrück und Bielefeld mit Unterstützung des Tanzfonds Erbe Wigmans 1957 uraufgeführte Choreografie von «Le Sacre du printemps» reproduzieren, wird sie ins Team von Henrietta Horn geholt und schnell zur unentbehrlichen Informationsquelle. 2017 folgen «Totentanz I + II» aus den 1920er-Jahren – und wieder ist Sehnert mit von der Partie. Wer die Produktionsdokumentationen, darunter auch ein einstündiges Feature über die Recherche zu «Sacre», auf www.tanzfonds.de anschaut, der sieht eine so agile wie sensible Restauratorin der Choreografie – eine faszinierende Künstlerin und Pädagogin, die nie aufgehört hat, den Tanz nach vorne zu bringen und nach vorne zu denken.

Wigmans Meisterschülerin

Mit 18 Jahren besteht Sehnert die Eignungsprüfung an der Westberliner Wigman-Schule, drei Jahre später folgt die Prüfung zur Tänzerin. Sie tanzt in Filmen und am Budapester Operettenhaus, bei den Bayreuther Festspielen und an Theatern in Koblenz und Gießen. Anschließend absolviert sie die pädagogischen Prüfungen für die Arbeit mit Laien und die Berufsausbildung von Profis. Und schließt ihre Ausbildung als Wigmans Meisterschülerin ab.

1962 dann die Gründung von «Motion», das Experiment einer Studiogruppe für Neuen Tanz. Der Auftritt auf der Musikbiennale in Zagreb bringt dem Ensemble 1965 erste internationale Anerkennung. Doch die Kritiker sind unterschiedlicher Meinung. «Barfuß in die Kunst», titelt die «Berliner Zeitung». Während die einen die ungewohnt kühlen, ausschließlich auf die Bewegung des Körpers konzentrierten Darbietungen als «Endliches im Unendlichen Geformten» interpretieren, tun die andern sie als «rhythmisches Exerzieren», oder, drastischer noch, als «gymnastisches Bodenturnen» ab.

«Motion» war von den Wigman-Schülern Katharine Sehnert, Brigitta Herrmann und Hellmut Gottschild ins Leben gerufen worden. Mit dem Ziel, die dem Expressionismus und seinen Leitlinien zugewandte Haltung der Lehrmeisterin zu aktualisieren und dem abstrakten Gestus der Bildenden Kunst ein eigenständiges Äquivalent gegenüberzustellen. «Tanz meint nicht – Tanz ist!» Mit dieser Parole und einem dem Zeitgeist entsprechenden Manifest untermauern sie ihr Konzept. Fünf Jahre gastieren die Tänzer in Universitäten und Theatern, sind auf diversen Festivals vertreten und präsentieren ihr avantgardistisches Solo- und Gruppenprogramm zur «Stunde des Tanzes» in der Akademie der Künste in Westberlin. 1967, bei den Vorbereitungen zu ihrem größten, vom Living Theatre inspirierten Projekt «Countdown für Orpheus», zerbricht die Gruppe. Der völlig überfrachtete, multimediale Abend erhält vernichtende Kritiken, und während Herrmann, Gottschild und der hinzugewonnene Schauspieler Manfred Fischbeck in die USA auswandern und dort ein Jahr später als Group Motion das Stück mit großem Erfolg in New Yorks Judson Church zeigen, bleibt Katharine Sehnert in Deutschland zurück.
Das abrupte Ende von Motion überfällt sie wie ein Schock, der eine totale Infragestellung ihrer künstlerischen Laufbahn nach sich zieht. Erst zwei Jahre später betritt sie wieder die Bühne. Bei «Spektrum», einer Präsentation der deutschen Tanzszene im Frankfurter Schauspielhaus, brilliert Sehnert mit einem Solo und sieht, dass man sie keineswegs vergessen hat. Waltraud Luley, die in Frankfurt ein renommiertes Studio leitet, will sie als Lehrerin verpflichten, und Pina Bausch, die gerade die Leitung des Folkwang Tanzstudios übernommen hat, bietet ihr eine Assistenz an. Vier Jahre arbeitet sie für Pina Bausch, lernt die unterschiedlichen Ansätze der in Essen praktizierten, an Rudolf von Laban und Kurt Jooss orientierten Ausbildung im Vergleich zur Wigman-Methode kennen, choreografiert, tanzt im Folkwang-Ensemble und studiert die Laban’sche Kinetografie. Als Pina Bausch nach Wuppertal geht, wechselt Sehnert ins Luley-Studio nach Frankfurt. Sie unterrichtet Modern Dance- und Jazztanz-Klassen und gründet die Gruppe Mobile, mit der sie 1978 den zweiten Preis in der Kategorie «non professionnels» beim internationalen Choreografie-Wettbewerb von Bagnolet holt. Gastspiele am Theater am Turm und zwei eigens vom Haus produzierte Tanzprojekte folgen.

Sehnert gilt als hochgradig diszipliniert und wird als streng-fordernde Lehrerin beschrieben.
Ehemalige Schüler loben ihre unnachgiebige Präzision, ihr unerbittliches Insistieren als Choreografin, ihren mitreißenden Humor und ihre jugendliche Energie, die sie sich bis heute bewahrt hat.

Erschöpfung als Arbeitsmittel

1982 geht sie nach Köln und eröffnet ihr eigenes Studio. Erneut baut sie eine Kompanie auf, zeigt ihre choreografische Gruppen-Arbeit im Theater Kefka und in der Alten Feuerwache und wird schnell zu einer maßgeblichen Größe der Kölner Tanzszene. Der entscheidende Impuls für ihre künstlerische Neuorientierung wird die Begegnung mit Min Tanaka. Sehnert fühlt sich auf dem Workshop des japanischen Butoh-Tänzers sogleich zu Hause. Die Philosophie und das Körperverständnis des Butoh sind ihr vertraut, das Exercice des Meisters ist ihr geläufig. Die Einflüsse des Ausdruckstanzes oder des freien und absoluten Tanzes, wie Mary Wigman ihn nannte, sind unverkennbar. Beide Richtungen arbeiten mit Bewegungen, die im Inneren des Körpers entstehen. Beide fordern absolute Authentizität und benutzen Ekstase und Erschöpfung als Arbeitsmittel. Beide sind auf der Suche nach einer Identität entstanden, die gegen alles zur Form Erstarrte rebelliert. Sehnert mag das Radikal-Absurde des Butoh. Das Groteske, Bizarre, Verschrobene liegt ihr. Ihre Arbeit verändert sich. Sie wird deutlich emotionaler und schonungsloser. Das Formale, Abstrakte rückt in den Hintergrund, und die persönliche Rückschau und Reflexion, Themen wie Einengung und Entfesselung drängen in den Vordergrund. Beeindruckende Soli entstehen, die ein fester Bestandteil ihres Gastspiel-Repertoires werden, wie 1988 «Alraune», 1989 «Visitor», 1993 «Lautloses Echo», 1995 «Bluebird» und 1998 «Comme à la radio», das die Japanerin Anzu Furukawa für sie inszeniert. Ihr Studio wird zum interdisziplinären Versuchsraum, zum Pool der internationalen Butoh- und Performance- Szene, zum «MultiArt»-Theater, wie sie es nennt.

1994 erhält sie den «Kölner Tanzpreis», 2009 den Ehrentheater-Preis der SK Stiftung Kultur. 2003 schließt sie ihr Studio, widmet sich fortan der Archivierung ihrer Arbeit. Erst mit dem Älterwerden wird ihr deutlich bewusst, wie tief sie in der Bewegungslehre von Mary Wigman verwurzelt ist, und wie wichtig es ihr ist, den Schatz der Pionierin an eine junge Tänzergeneration weiterzugeben.

Dem Erbe verpflichtet

Sehnert lehrt an Hochschulen, leitet Workshops und Seminare und wird als Referentin hoch geschätzt. Ihre Mitarbeit an der Reproduktion vergangener Choreografien wird unerlässlich. 2009 berät sie den Tänzer Fabián Barba, der Wigmans Amerikaprogramm von 1930 wiederbelebt und die Grande Dame des modernen Tanzes mit dem Gestus der Travestie auferstehen lässt. Barbas «A Mary Wigman Dance Evening» weckt das historische Interesse für den Ausdruckstanz. Die Projekte, die ab 2013 vom Tanzfonds Erbe gefördert werden – Wigmans «Sacre» und die «Totentänze » – werden als geglückte Dokumentationen gefeiert. Doch sie zeigen auch die Tücken, die bei Tanz-Reproduktionen entstehen können. Notationen, Anmerkungen, Skizzen, Fotos und Briefkorrespondenzen wurden gesichtet, vieles davon ließ offene Fragen zurück und verführte vorschnell zur freien Interpretation. Sehnert insistiert auf Genauigkeit. Sie ist dem Erbe verpflichtet. Und wer sie kennt, weiß, mit welcher Vitalität und Leidenschaft sie für das Wigman-Erbe brennt.

2018 setzt sie sich noch einmal mit dem «Totentanz I» auseinander, zusammen mit Tanzstudenten der Frankfurter Hochschule für Musik und Darstellende Kunst. Herausgekommen ist dabei eine in vielen Details abweichende Version, eine interessante Ergänzung zur Osnabrücker Fassung. Sie ist auch ein wichtiges Dokument für die Wigman-Forschung, weil sie zeigt, wie unterschiedlich und individuell Aufzeichnungen von Choreografien entschlüsselt und interpretiert werden können. Und wie schwierig es ist, dem Original ganz nahezukommen.

www.katharinesehnert.com

Ric Schachtebeck

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