Im Spiegelbild des Idols

F.A.Z./10.01.2009/Bilder und Zeiten/Z3

Als der russische Tänzer Vaslav Nijinsky 1912 der Bildhauerin, Schriftstellerin und lesbischen Aktivistin Una Troubridge Modell saß, hatte er den Höhepunkt seiner Karriere erreicht. Er wurde als Gott verehrt, "Wunder aller Wunder" genannt und verkörperte das männliche Idealbild seiner Zeit. Mit der Choreographie zu "L'Après-midi d'un Faune" hatte er eine kontroverse Kunstdebatte ausgelöst, die Pariser Feuilletons über Tage in Atem gehalten und einen heftigen Streit zwischen dem französischen Auswärtigen Amt und der Russischen Botschaft entfacht. Von Aufführungsverbot war die Rede, der Skandal perfekt und Nijinskys Ballett der Renner der Saison.

Una Troubridge modellierte den Tänzer in der Maske des Fauns, einer Rolle, mit der jeder Nijinsky sofort identifiziert. Der laszive Gesichtsausdruck der Büste entfaltet eine unmittelbare Magie, und man bekommt eine Ahnung von der strotzenden Kraft und verführerischen Sinnlichkeit, mit denen der Tänzer sein Publikum hysterisierte.

Für den Intendanten des Hamburg Balletts und bekennenden Nijinsky-Fan John Neumeier ist Troubridges Büste eine der prägnantesten Arbeiten, die von dem Tänzer hergestellt wurden. "Die Präsenz des Darstellers", sagt er, "ist spürbar." Als einer der wenigen Abgüsse 1975 bei Sotheby's angeboten wurde, konnte er nicht widerstehen und ersteigerte das seltene Relikt. Neumeier begann gezielt eine Nijinsky-Sammlung aufzubauen, avancierte zum versierten Kunstspezialisten und ist seither ein gerngesehener Gast auf Tanz- und Ballettauktionen. Die Sammlung umfasst inzwischen ein Konvolut aus Gemälden, Grafiken und Zeichnungen, Skulpturen, Plaketten und Medaillen, Werkmanuskripten und Korrespondenzen sowie eine beachtliche Fotografiesammlung. In ihrer Kombination aus Kunstsammlung, Bibliothek und Archiv ist sie einzigartig und unter Tanzhistorikern zu einer begehrten Anlaufstelle geworden. 2006 wurde sie in eine Stiftung umgewandelt und wird seitdem von einem eigenen Kurator betreut.

Die magische Anziehungskraft Vaslav Nijinskys scheint auch bis heute ungebrochen. Als "größter Tänzer des zwanzigsten Jahrhunderts" hat er sich in unser Gedächtnis eingebrannt. Doch welches Bild assoziieren wir eigentlich mit ihm? Ist es die Legende, der charismatische Tänzer, der bis zu den Sternen sprang? Ist es der innovative Choreograph, der Ballettgeschichte schrieb, oder ist es der Mythos von Genie und Wahnsinn, für dessen Wahrhaftigkeit er unmissverständlich den Beweis lieferte?

Die Legende Nijinskys ist mit der Ära der Ballets Russes und ihres Intendanten Sergej Diaghilew verknüpft. Leben und Karrieren der beiden sind unmittelbar miteinander verwoben, und die Berühmtheit des einen wäre ohne die Weitsicht des anderen nicht denkbar gewesen. 1908 lernten sich Sergej und Vaslav in St. Petersburg kennen. In seinen Tagebuchaufzeichnungen beschreibt Nijinsky ihre erste Begegnung mit Hass und Widerwillen, aber auch mit einer großen Bewunderung und Hingabe, die er für den achtzehn Jahre älteren Mann empfand. Die beiden Männer telefonierten miteinander, verabredeten sich in einem Hotel, kamen schnell zur Sache und begannen eine Affäre, die sich zu einer der großen legendären Liebesbeziehungen des zwanzigsten Jahrhunderts entwickeln sollte.

1909 veranstaltete Diaghilew seine erste Ballettsaison in Paris. Er hatte sich dort bereits mit Ausstellungen russischer Kunst, Konzert- und Opernaufführungen einen Namen gemacht. Mit der Präsentation eigenständiger, aus dem Opernkontext herausgelöster Ballettaufführungen überraschte er die Franzosen mit einem neuen Konzept; denn eine Ballettkultur, wie sie in Russland gepflegt wurde, war im Westen Europas unbekannt. Diaghilew überzeugte mit dem besten Choreographen seiner Zeit, Michail Fokine, verpflichtete seine Malerfreunde Léon Bakst und Alexandre Benois als Bühnenbildner und konnte mit den Solotänzern des Marinsky-Theaters wie Tamara Karsawina, Anna Pawlowa, Adolphe Bolm und seinem neuen Liebhaber Vaslav Nijinsky ein erstklassiges Ensemble vorweisen. Die Ballets Russes, wie er seine Truppe bald nannte, eroberten die französische Hauptstadt im Sturm, und Diaghilew brachte eine Erfolgsgeschichte ins Rollen, die bis heute beispiellos geblieben ist.

Diaghilew brach mit akademischen Konventionen, löste die Trennung von angewandter und bildender Kunst auf und trieb das L'art-pour-l'art-Prinzip auf die Spitze. Er verblüffte mit einem unfehlbaren Instinkt für ausgefallene Talente, brillierte als Arrangeur von Teams, blieb kompromisslos in seinen Visionen und brachte mit Künstlern wie Igor Strawinsky, Maurice Ravel, Georges Braque, Pablo Picasso und Jean Cocteau die Idee des Gesamtkunstwerks bis zur Perfektion. Die Ballets Russes beeinflussten Mode- und Interieur-Design, schlugen ästhetisch die Brücke vom Jugendstil zum Art déco, stellten sich souverän dem Kubismus und wurden zum Schmelztiegel der europäischen Avantgarde.

Zum Mythos avancierte das Ballettensemble jedoch erst durch seinen Startänzer Nijinsky, der mit exzellenter Virtuosität und Anmut, einer genialen Verwandlungsfähigkeit, unverschämt provokanter Erotik und vor allem mit seinen legendären hohen, in der Luft gehaltenen Sprüngen das Publikum zur Raserei brachte. Sobald er die Bühne betrat, so berichten Zeitzeugen, tobte, schrie und johlte das Publikum, und die androgyn-erotischen Charaktere und exotischen Sklavenrollen, die Michail Fokine für ihn kreierte, beflügelten die Phantasie der weiblichen wie männlichen Zuschauer und lösten Stürme der Hysterie aus. Nijinsky wurde zur Kultfigur und rückte den männlichen Tänzer, der kurz zuvor noch ein geächteter Protagonist in einer von Frauen dominierten Tanzkunst war, in den Mittelpunkt des Geschehens.

1912 choreographierte Nijinsky sein erstes Ballett, "L'Après-midi d'un Faune". Bei der Premiere reagierte das Publikum dermaßen geschockt, dass es stumm blieb, und erst als Diaghilew das zwölfminütige Stück gleich noch einmal tanzen ließ, brach eine Empörung los, die sich bis in die oberen Etagen der Politik ausdehnte. Es waren nicht nur die eindeutigen Beckenbewegungen, die die Gemüter erhitzten: Nijinsky hatte die klassischen Ballettkonventionen durchbrochen. Er hatte Grazie und Anmut als inhaltslose Dekorationen enttarnt, unzeitgemäßen Manierismus eliminiert und mit einer eigenwilligen Formensprache aus silhouettenhaften, linear im Profil ausgerichteten Bewegungen den Grundstein für die moderne Choreographie gelegt.

Noch radikaler konnte er seine Visionen mit Strawinskys "Sacre du Printemps" umsetzen. Er interpretierte das archaische Ritual einer Jungfrauenopferung als Massenballett mit einem völlig neuen Vokabular, das sich aus stampfenden, rhythmischen und primitiv wirkenden Bewegungen zusammensetzte. Die Uraufführung im neu eröffneten Théâtre des Champs-Elysées polarisierte das Publikum, geriet außer Kontrolle und konnte nur unter Polizeischutz bis zum Ende aufgeführt werden. Nur wenige der anwesenden Zuschauer waren sich bewusst, dass sie gerade den Anbruch einer neuen Tanzepoche miterlebten.

"Unabhängig von seinem eigenen erstaunlichen tänzerischen Können und unbeirrt durch alle Erwartungen an Virtuosität und Brillanz, die in ihn gesetzt wurden, entwickelte Nijinsky seine eigene choreographische Vision", so fasst es John Neumeier in dem erst kürzlich veröffentlichten Buch "In Bewegung" zusammen. Nijinskys Choreographie zu "Le Sacre du Printemps" besticht durch Radikalität und wird von Tanzhistorikern als Schnittstelle des klassischen zum modernen Ballett interpretiert. In diesem Zusammenhang versteht man Neumeiers Faszination; denn genau an dieser Schnittstelle setzt er mit seiner eigenen Arbeit an. Er hat sein choreographisches Werk stets im Kontext der klassischen Ballett-Tradition verstanden, den Blick für Vergangenes geschärft und auch durch Neuinterpretationen das Erbe nicht aus den Augen verloren. Neumeier will Ballettgeschichte erlebbar machen. Er will Ursprünge aufzeigen und Bezüge verdeutlichen, und sein unablässiges Engagement für das Vermächtnis Nijinskys und seiner Zeit ist ein Bestandteil seiner Mission.

Jetzt will er, wie so manch anderer seiner Generation, die Wahlheimat Hamburg durch ein Museum bereichern. Die Institutionalisierung von Neumeiers Kunstsammlung wäre ein außerordentlicher Glücksfall für die Hansestadt; denn sie würde ihr Renommee als Ballettstadt beträchtlich stärken. Neumeier denkt an eine Kombination aus Ausstellungsraum, Forschungsstätte und Bibliothek, in der er seine einzigartige Nijinsky-Sammlung, eingebunden in sein eigenes Lebenswerk, der Öffentlichkeit zugänglich machen will. Bis dahin bleibt sie nur Freunden und Privilegierten vorbehalten. In seinem Eppendorfer Stadthaus zeigt der Choreograph Nijinsky-Abbildungen von Léon Bakst und Alexandre Benois, Zeichnungen von Cocteau, George Lepape und Gustav Klimt, Skulpturen von Georg Kolbe und Fritz Klimsch, fotografische Arbeiten von Eugène Druet und die Büste von Una Troubridge, die auch heute noch zu seinen Favoriten zählt. Kernstück der Sammlung aber sind die Zeichnungen von Nijinsky. Neumeier besitzt das größte Kontingent weltweit.

Seine Sammelleidenschaft verschlägt einem den Atem. Fanatisch, so beschreibt er es selbst, hat er alles angehäuft, was in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Tänzer steht. Und genau das macht seine Sammlung so einzigartig und wertvoll. Man muss sorgfältig überprüfen, mit welchem Konzept man die Schätze zukünftig präsentiert; denn gerade in der privaten Atmosphäre, im Spannungsfeld der beiden Künstlerpersönlichkeiten Neumeier und Nijinsky entfalten sie ihren besonderen Reiz. Neumeier bleibt auf Augenhöhe mit seinem Idol. Die Wohnung ist zum Schrein geworden, das Zwiegespräch zur Meditation. In seiner mittlerweile fünfunddreißigjährigen Tätigkeit als Chefchoreograph des Hamburg Ballett hat er sich dem Tänzer auch zweimal choreographisch genähert: 1979 mit dem kleineren Tanzstück "Vaslaw" und zwanzig Jahre später mit dem abendfüllenden Ballett "Nijinsky". Es ist, neben den Choreographien zur Matthäus-Passion und der Dritten Sinfonie von Gustav Mahler, eine seiner wichtigsten und auch persönlichsten Arbeiten geworden.

1913, also noch im Premierenjahr von "Le Sacre du Printemps", brachen die Ballets Russes zu einer Gastspielreise nach Südamerika auf. Eine mit Autogrammen signierte Speisekarte des Majestic Hotels in Buenos Aires ist ein Souvenir aus dieser Zeit. Es ist das Zeugnis eines Hochzeitsbrunchs. Völlig überraschend und zur Verblüffung des Ensembles hatte Nijinsky eines seiner hartnäckigsten Groupies geheiratet. Für die Auserwählte, Romola Pulszky, war es die Erfüllung einer perfekt geplanten Strategie, für den Tänzer wohl eher, wie einige seiner Kollegen vermuteten, ein romantischer Ausrutscher. Was mag ihn bewogen haben zu diesem spontanen Entschluss? Neumeier besichtigte die Iglesia S.Miguel, in der die beiden getraut wurden. Er hat eine Antwort gesucht für Nijinskys unerklärlichen Schritt. Vielleicht war es aus Langeweile, Übermut, Abenteuerlust, Jux und Tollerei, vielleicht war es aber auch das drängende Bedürfnis nach einer privaten Eigenständigkeit, um der Übermacht Diaghilews zu entkommen.

Es war eine Entscheidung mit fatalen Folgen; denn bald danach waren die beiden Männer zerstritten und Nijinsky ohne Job. Der Verstoß aus der Kompanie stürzte ihn in eine künstlerische Krise, ein Äquivalent zu den Ballets Russes gab es nicht. Er versuchte eine eigene Truppe auf die Beine zu stellen, scheiterte und erlitt einen Nervenzusammenbruch, dem unkontrollierte Wutausbrüche und Wahnvorstellungen folgten. 1916 versuchte er ein Comeback bei den Ballets Russes, doch die Stimmung zwischen ihm, Diaghilew und Romola ließ sich nicht entschärfen, und die ungeschickten Vertragsverhandlungen und das Unverständnis aller drei für die prekäre Situation machten den Versuch einer erneuten Zusammenarbeit zunichte.

Die Nijinskys zogen sich in die Schweiz nach St. Moritz-Dorf zurück, und Vaslav begann zu zeichnen. Er entwarf streng geometrische, farbige Mandalas aus Ellipsen und sich überschneidenden Kreisen, entwickelte eine geheimnisvolle, der russischen postrevolutionären Avantgarde angelehnte Symbolik und malte düstere Gouachen, die, aneinandergereiht, wie das Storyboard eines eigenwilligen Experimentalfilms wirken. 1919 gab er eine letzte öffentliche Vorstellung, die von Medizinern und Tanzhistorikern kontrovers gedeutet wird, schrieb sechs Wochen ununterbrochen an einem Tagebuch und rutschte unaufhaltsam in einen Lebensabschnitt, den der Nijinsky-Biograph Richard Buckle als "Finsternis" beschreibt. Nijinsky wird als schizophren diagnostiziert. Die letzten dreißig Jahre seines Lebens - die Hälfte seiner Zeit - verbrachte er in psychiatrischen Kliniken, durchlitt Panikattacken, Tobsuchtsanfälle, katatonen Stillstand und schwerwiegende Phasen manischer Depression. Er wurde als medizinisches Versuchsobjekt missbraucht, mannigfachen Insulinschockbehandlungen ausgesetzt und verstarb 1950 in einem Londoner Krankenhaus.

Romola, die bis zu seinem Tod an seiner Seite blieb, schrieb eine geschönte Biographie und brachte eine stark redigierte und über große Strecken verfälschte Version seines Tagebuchs auf den Markt. Erst nach ihrem Tod tauchte das Originalmanuskript wieder auf. Es wurde John Neumeier angeboten. Er durchblätterte es Seite für Seite, wie er sagt, und hat es dann doch nicht erworben. Eine Entscheidung, die er bis heute bereut. Umso mehr setzte er Anfang 2008 alle Hebel in Bewegung, als ihm 72 Zeichnungen angeboten wurden. Der Kauf war ein Coup und ermöglicht der Stiftung John Neumeier, nunmehr den Tänzer auch als bildenden Künstler publik zu machen. Im kommenden Mai, hundert Jahre nach Nijinskys Pariser Debüt, wird die Hamburger Kunsthalle seine Arbeiten präsentieren - und alles deutet darauf hin, dass der Tänzer auch hier zum Sprung ansetzen wird.

Ric Schachtebeck

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