Sitzt wie angegossen

F.A.Z./08.09.2007/Bilder und Zeiten/Z3

Berlin eine Modestadt? In den letzten dreißig Jahren zeigten die Einwohner wenig Engagement für Mode und interpretierten sie eher als subkulturelle Randerscheinung.
Doch in letzter Zeit sind sie aus ihrer Apathie erwacht. Junge Modelabel, anfangs als alternative Nähstuben belächelt, produzieren mit überregionalem Erfolg. Neue Messeformate sind entstanden und erregen internationale Aufmerksamkeit. Der modische Fauxpas, sonst eher die Regel in der Hauptstadt, ist zum Auslaufmodell geworden.

Die Staatlichen Museen zu Berlin bekräftigen diesen Trend und demonstrieren Modebewusstsein. Im Frühjahr überraschte die Kostümbibliothek mit einer Ausstellung über Christian Dior. Jetzt folgt das Kunstgewerbemuseum im Kulturforum mit einer großen Retrospektive des Berliner Modeschöpfers Uli Richter. Die am Donnerstag beginnende Schau zeigt sein Lebenswerk von 1948 bis 1998. Der heute achtzigjährige Richter prägte den deutschen Modestil der sechziger und siebziger Jahre wie kein anderer. Seine international beachtete Couture veranschaulicht exemplarisch die Modeentwicklung der Bundesrepublik, das wiedererlangte Renommee der Berliner Haute Couture - und auch ihr zwischenzeitliches Ende. Im September 2005 konnte die Stiftung Preußischer Kulturbesitz Richters exorbitante Modesammlung erwerben. Sie umfasst über sechshundert seiner Haute-Couture-Modelle und Accessoires, Beispiele französischer und italienischer Haute Couture, ein umfangreiches Fotoarchiv sowie elftausend Modezeichnungen und Skizzen: fünfzig Jahre Berliner Modegeschichte. Eine Auswahl dieses Zeitdokuments wird nun erstmals der Öffentlichkeit präsentiert.

Mit der "Glockenblumenlinie" von Christian Dior beginnt 1947 die neue Zeit. Diors Erstkollektion sorgt für internationalen Wirbel, besiegelt seine rasante Karriere und beschert der Pariser Haute Couture ein fulminantes Comeback. Der "New Look" trifft den Geist jener Zeit und weckt nach den Kriegsjahren der Entbehrungen das Bedürfnis, schön, weiblich und modisch aktuell zu sein. Dior, der medienversierte Modestar, hält sein Zepter fest in der Hand. Er verpasst der Tageskleidung eine neue Silhouette und gibt der Mode Konventionen zurück. Er lanciert das Korsett, macht das Tragen von Handschuhen zur Pflicht und fordert die tadellose Übereinstimmung aller Accessoires, so dass das "Was wann wozu womit?" zur bestimmenden Frage der Tagesdisposition wird. Er legt die Rocklänge auf unwiderrufliche dreißig Zentimeter über dem Boden fest. Als er sie vier Jahre später auf vierzig Zentimeter verkürzt, steht die Welt für einen Moment still.

In Deutschland begegnet man den luxuriösen, figurbetonten Kreationen vorerst mit Ablehnung und Hohn. Doch schon 1948 zeigen die ersten Berliner Modegeschäfte die weiten, stoffverschlingenden Kleider mit der engen Taille oder Diors schmale Variante mit dem markanten Gehschlitz in der hinteren Rocknaht. In der Hauptstadt haben die Modemacher wieder ihre Arbeit aufgenommen, sie folgen dem Pariser Diktat, von Aufbruchstimmung ist die Rede. Die Couturiers der ersten Stunde kennen die Stadt noch aus ihren Glanzzeiten als schillernde Modemetropole. Einige von ihnen hatten steile Karrieren hinter sich; denn durch das Arisierungsprogramm der Nationalsozialisten waren sie mühelos zu Chefs großer Unternehmen geworden. Auch Rolf Horn hatte enormen Reichtum angehäuft, nachdem der jüdische Konfektionsbetrieb Kersten & Tuteur arisiert worden war und er das weltbekannte Traditionshaus H. Gerson für einen Spottpreis hatte erwerben können. Als Uli Richter 1948 bei Horn vorsprach, war das Modehaus eine der exquisitesten Adressen der Stadt.
Der 1926 in Potsdam geborene Richter hat eine Lehre als Textilkaufmann absolviert, bevor er sein Volontariat bei Horn beginnt. Doch es hält ihn nicht lange am Schreibtisch der Buchhaltung. Er entwirft sein erstes Modell und - so die Legende - schmuggelt es hinter dem Rücken seines Arbeitgebers in die Kollektion. Das Kleid aus blauem Georgette-Stoff mit weißem Kragen wird zum Verkaufsschlager und geht sechzig Mal über den Ladentisch, wie auch weitere zehn Kreationen, diesmal vom Chef persönlich bei Richter in Auftrag gegeben. Horn protegiert das Talent seines jungen Mitarbeiters, und Uli wird als Newcomer gefeiert. Die vier Jahre bei Horn, so hat es Richter mehrfach geäußert, sind richtungweisend und stilbildend für seine Karriere gewesen. 1952 wechselt er als Chefstilist zu Schröder-Eggeringhaus, mit denen er von 1956 an als Schröder-Eggeringhaus und Uli Richter firmiert. Die Berliner Bekleidungsindustrie boomt. In der Budapester Straße ist ein neues Modezentrum entstanden, es soll das im Krieg zerstörte Konfektionsviertel am Hausvogteiplatz ersetzen. Hier, im Herzen der West-City, wird Massenware produziert, oder wie die Berliner sie nennen: "Stapelcouture mit Pfiff". Die Hauptstadt, so scheint es, hat sich ihr Konfektionsmonopol zurückerobert. Den wiedererlangten Ruf als Modestadt jedoch verdankt sie einer Handvoll Modellhäusern, die mit ihren erstklassigen Kollektionen für internationales Aufsehen sorgen.

1963 hat Helmut Newton ihre Couturiers fotografiert. Auf dem Gruppenfoto erkennt man populäre Größen wie Heinz Oestergaard, Detlev Albers, Hans Seger und Gerd Staebe, Bruno Glupp und Herman Schwichtenberg und, als Jüngsten in dieser Runde, Uli Richter. Bei einer Präsentation der Berliner Modellhäuser 1958 in New York hat er erste internationale Erfolge erzielen können. Die Presse lobt seine Kreationen, die "Herald Tribune" widmet ihm sogar ein Titelfoto. Die Amerikaner sind begeistert vom sportlichen Gestus seiner Couture.
Richter ist ehrgeizig und zielstrebig und hat einen guten Riecher für Sponsoren. Er will Mode nicht nur machen, wie er betont, sondern auch verkaufen. 1959 gründet er zusammen mit seiner Kollegin Dorothea Köhlich sein eigenes Unternehmen, die Uli Richter Modelle GmbH am Kurfürstendamm. Köhlich, die Richter bei Horn kennengelernt hatte, ist eine charismatische Erscheinung mit exzellenten Fremdsprachenkenntnissen. Sie übernimmt den kaufmännischen Part der Firma, betreut die Privatkunden und gibt den Schauen der Haute Couture mit ihrer überaus distinguiert vorgetragenen Moderation eine spezielle, kultartige Prägung. Die beiden glänzen als Geschäftspartner und demonstrieren Risikobereitschaft und Pragmatismus.

Auf den Mauerbau von 1961, durch den die Branche schlagartig mehr als siebentausend Mitarbeiter verliert, reagieren die beiden mit Expansion. Sie eröffnen Salons in Düsseldorf und München, und Richter bringt als erster Couturier in Europa eine Prêt-à-porter-Linie auf den Markt. 1965 präsentieren die Berliner Couturiers ihre Kollektionen ein zweites Mal in New York. Die "New York Times" kürt Richter zum Besten der Gruppe.
Richter glänzt mit einem außergewöhnlichen Gespür für ungewohnte Farbzusammenstellungen und verblüfft mit unkonventionellen Materialkombinationen.Sein Markenzeichen ist eine jugendlich-sportliche, betont feminine Mode, die sich durch raffinierte Schnitte, exzellente Verarbeitung und hochwertige Materialien auszeichnet. Richters Linie besticht durch schnörkellose Eleganz und offenbart sich im Understatement. Er hat kein Interesse, im Gegensatz zu einigen seiner deutschen Kollegen, die frühere Haute-Couture-Ästhetik neu aufleben lassen. Er versteht sich als Designer der neuen Zeit, hat die Vermarktungsstrategien seiner Generation erkannt und erklärt kurzum sein Firmenlogo zum Stoffmuster - eine unerhörte Geste, die in Deutschland bis dahin noch unbekannt ist.
Die Marke Uli Richter wird binnen weniger Jahre zum Erkennungszeichen. Mit Ilse Brettschneider, Hans-Jürgen Kammer und Wolfgang Patz ist das Entwurfsatelier der Firma perfekt besetzt. Richter fordert bedingungslose Loyalität und professionelle Höchstleistung. Er ist ein Arbeitsmensch, der Salon sein Zuhause, und ein ahnungslos begonnenes Feierabendgespräch kann sich schnell in eine hart durchgearbeitete Nachtschicht verwandeln. "Wo brennt das Licht am längsten?", fragen die Berliner Kollegen im Scherz und verpassen der Firma den Spitznamen "Ewige Lampe". Bisweilen treibt Richter allerdings seine Mitarbeiter an ihre Grenzen, denn seine divenhaften Allüren und seine rigide Detailversessenheit erfordern schon ein besonderes Maß an Verständnis. Doch in der akribischen Detailarbeit, das wissen alle, liegt eines seiner Erfolgsgeheimnisse. Auch Ali Thompson, Chefin eines Berliner Modeateliers für Abend-Couture und ehemalige Studentin von Richter, erwähnt als Erstes den kritischen Blick fürs Detail, den sie von ihrem Professor übernommen hat. "Und", fügt sie hinzu, "wie man mit einer Kombination aus Streifen, Karos und Tupfen zeitlose Eleganz erzeugen kann."

Richter entwickelt seine Couture-Visionen ausschließlich über das Material, eine Methode, mit der er seinen unkonventionellen Einsatz von Textilien am besten verwirklichen kann. Er experimentiert mit eigenwilligen Reptilleder-Wollstoff-Pelz-Kombinationen und betritt unerforschtes Couture-Neuland. Er erfühlt, er erdenkt sich seine Kreationen. Die Journalistin Marietta Riederer hat ihn einmal einen "Modedenker" genannt, ein Begriff, der vielleicht am ehesten seiner Arbeitsweise entspricht. Nach dieser ersten, entscheidenden Entwurfsphase wird skizziert, gezeichnet und ausgemustert. Sechs Kollektionen muss das Team jährlich stemmen. Gezeigt werden sie in den hauseigenen Salons, in Japan, Monaco, Kanada und allein 47 Mal in den Vereinigten Staaten. Neu ist der Präsentationsstil auf dem Catwalk: Richter engagiert SFB-Discjockey Lord Kunze und inszeniert seine Mode in Gruppenarrangements und thematischen Bildern. Selbst Gracia Patricia kann er damit entzücken.
Die meist als Gala angekündigten Schauen sind kulturpolitische Ereignisse, und Uli Richter wird als "Botschafter der deutschen Mode" vermarktet: ein Titel, den er nur bedingt akzeptieren kann; denn Mode, so äußert er sich einmal gegenüber der amerikanischen Presse, sei nie auf eine Nation begrenzt, sondern stets von internationalem Charakter.
Der Minirock von Mary Quant, die Zukunftsvisionen von Pierre Cardin und André Courrèges, die transparenten Durchblicke von Rudi Gernreich und Ossi Clark und nicht zuletzt die Punk-Bewegung sind Modeentwicklungen, die Richters Couture kaum berühren. Das Schrille, Kurzlebige ist nicht sein Ding. Doch die Zeiten haben sich geändert. Die Mode hat ihren elitären Charakter verloren. Die Teens und Twens bestimmen die Szenerie, und das damenhafte Kostüm ist Schnee von gestern. 1967 hatte bereits Heinz Oestergaard seinen Salon aufgegeben, 1971 folgen Staebe & Seger. Uli Richter schließt sein Modellhaus 1982. Er ist der letzte der Couturiers, die Helmut Newton einst fotografierte.

Von 1986 bis 1996 folgt er einem Ruf der Hochschule der Künste Berlin, unterhält noch einen kleinen Privatsalon in seinem Domizil in Grunewald und realisiert mit F.C. Gundlach ein Forschungsprojekt über die Berliner Modefotografie, das mit der Ausstellung "Berlin en Vogue" in Berlin und Hamburg vorgestellt wird. Der Katalog gilt bis heute als Standardwerk zur Berliner Modegeschichte. Der jetzt im Dumont Verlag erscheinende Katalog zur Uli-Richter-Retrospektive ist eine gelungene Ergänzung,
denn die Schau des Kunstgewerbemuseums dokumentiert das Lebenswerk des Modemachers vortrefflich. Kuratorin Christine Waidenschlager illustriert es anhand von hundertdreißig Haute-Couture-Modellen, Accessoires, Filmen, Presseberichten und Arbeiten bekannter Modefotografen wie Regina Relang, Rico Puhlmann, F.C. Gundlach und Hubs Flöter.
Besondere Aufmerksamkeit gilt den prominenten, der Couture verfallenen Gönnerinnen und Kunden. Exemplarisch werden die Haute-Couture-Sammlungen von Ignes Ponto und Ebelin Bucerius gezeigt und mit Modellen aus dem Besitz von Geschäftspartnerin Dorothea Köhlich und Aenne Burda sowie der Herzogin von Oldenburg ergänzt. Im Mittelpunkt stehen die Roben, die Uli Richter für Rut Brandt entworfen hat. Als First Lady zeigte sie sich zu allen öffentlichen Anlässen exklusiv in seiner Couture.
Der französische Interieur-Designer Christophe Martin zitiert mit seiner Ausstellungsarchitektur Richters Berliner Salon als Installation mit Versatzteilen der erhaltenen Originalausstattung, überzeugt mit einer schlampig-chaotischen Hängung der Fotografien und weckt trotz der geradezu sakralen Atmosphäre authentische Ateliergefühle. Die Couture von Uli Richter inspiriert auch heute noch, vor allem im Tagesbereich, durch ihre erstklassige Verarbeitung und Eleganz. Man möchte mehr davon sehen, man möchte mehr sehen aus dieser vergangenen Epoche der Berliner Haute Couture, für die sich Uli Richter als idealer Repräsentant erweist. Seine Sammlung ist von unschätzbarem Wert für Berlin. Sie könnte der Grundstock für ein eigenständiges Modemuseum werden, gerade jetzt, da die Stadt wieder ihr Interesse für die Mode entdeckt.

Ric Schachtebeck

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